Soziale, ökologische und feministische Digitalpolitik aus Sicht der Entwicklungszusammenarbeit
Am 14. Juni sprach Martin Wimmer, Chief Digital Officer des BMZ bei der der Arbeitsgruppe „Digitale Ethik“ der Initiative D21. Sein Vortrag beinhaltete Ausführungen zu folgenden Themen:
Kolonialismus
Schließen Sie bitte kurz die Augen. Stellen Sie sich einen Globus vor. Finden Sie Deutschland. Wo ist Afrika? Wer jetzt bei Afrika „da unten“ denkt, ist schon mittendrin in ethischen Fragen, die sich auch Deutschland stellen muss, verbunden mit Stichworten wie Kolonialismus, Völkermord, Missionierung, Popkulturalisierung. Gelernte Vorurteile, kulturell geprägtes Vorwissen, westliche Dominanzvorstellungen prägen unser Bild, immer verbunden mit der Gefahr der Auslöschung oder zumindest Überschreibung lokaler Identitäten mit europäisch-amerikanischen Hegemonieansprüchen. Und auch der Digitalisierungsdiskurs folgt diesem Muster. Digitalisierung des afrikanischen Kontinents heißt dann zunächst: Ausbeutung, Markterschließung und Wertekolonialisierung. Schon der Sammelbegriff „Afrika“ ist ein westliches Konstrukt, das den diversen Realitäten der Menschen dort nicht gerecht wird, ebensowenig wie „der Globale Süden“. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialgeschichte müssen wir den Kulturen auf dem afrikanischen Kontinent mit Respekt begegnen. Ihre Ikonographien, ihre Sprachen und sozialen Praktiken, Rituale und Tabus, sind sie in der Gestaltung von Hardware und Software, Wissens-Datenbanken und sozialen Medien, Tastaturen und Emojis, angemessen repräsentiert? Ohne dass es andersherum zur kulturellen Appropriation und Ausbeutung im digitalen Raum komm? Nur 20 Prozent der Beitragenden von Wikimedia kommen aus dem Globalen Süden. Dabei sind es gerade diese „Dritten Orte“, wo kulturelle Differenz neu geordnet und ausgehandelt wird. Wer Wittgenstein gelesen hat weiß um die kulturelle Bestimmtheit von Sprache und Gedankengängen. Sie gilt entgegen der für Technologie oft angesetzten Objektivitätsfiktion auch für Programmiersprachen und Algorithmen. Das ist die Kehrseite des Narrativs von der Standardisierung in der digitalen Welt: Hinter den Kulissen tobt ein globaler Kulturkampf um Standardmaße, Normen, IKT-Branchen-Definitionen, Zertifizierungen – und Führungsposten, den Connaisseure bei Institutionen wie ITU, ISO oder IEC nachverfolgen können. Leitkultur-Anhänger*innen werden das anders sehen: Ansonsten spricht viel für eine hohe Diversität Digitaler Ethiken auf dem Fundament universeller Menschenrechte.
Ethik ist global
Ethik endet nicht an Grenzen. Zur Beurteilung der Folgen meines Handelns gelten weltweite Begründungszusammenhänge. Und das gilt für alle Handelnden: Coder*innen, Finanzvorstände eines digitalen Geschäftsmodells, Suchmaschinenoptimierer*innen, Nutzer*innen oder oft ja: Benutzte, Poster, Gamer, Digital-Politiker*innen. Was wir tun, hat Auswirkungen im Globalen Süden. Was woanders passiert – sei es in Afrika, Asien, Lateinamerika, Ländern der östlichen Partnerschaft – hat Folgen für uns. Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Taliban in Afghanistan, ein Virus aus China, die Wahl von Lula in Brasilien, die mögliche Einführung einer gemeinsamen Digitalwährung der BRICS-Staaten: Das alles hat massive Auswirkungen auf Weltwirtschaft, Beschaffungs- und Absatzmärkte, Lieferketten und Datenströme. Deutschland baut deshalb Abhängigkeiten ab und versucht stärker zu diversifizieren. Exemplarisch können Sie das an den Fragen von Energie und Halbleitern beobachten. Die Digitalisierung hat die Globalisierung beschleunigt bis zur Echtzeit. Die Folgen von Störungen erleben wir alle am eigenen Leib: Wenn es plötzlich kein Speiseöl mehr im Supermarkt gibt, extrem teures Gas unsere Energiekosten hochtreibt, Chips für die Autoproduktion knapp werden, aufgrund von Inflation und Währungsschwankungen Arbeitskosten beim Offshoring von IT-Leistungen plötzlich steigen.
Sozialer Spalter
Von eAgriculture bis eHealth, von SmartCities bis SmartEnergy, von eGovernment bis Industrie 4.0: Wer modernste Technologie nicht einsetzen kann, weil ihm seltene Erden fehlen, eine eigene Chipproduktion, eine KI-Forschung, IT-Sicherheitssoftware, der ist nicht mehr wettbewerbsfähig und wird abgehängt – als Unternehmen, als Staat und als Individuum. So wurden in den letzten Jahrzehnten weite Teile der Welt und Wirtschaft brutal vom technologischen Fortschritt abgeschnitten. Zahlreiche bekannte Marken, ganze Branchen wurden vom Markt disrumpiert. Allen anekdotischen Gegenbeispielen vom Silicon Savannah in Nairobi bis zu den 2.000 FinTechs auf dem afrikanischen Kontinent und beliebten Formulierungen wie „Leapfrogging“ und „Reverse Innovation“ zum Trotz: Während auf der einen Seite der Reichtum ins Unermessliche wächst und die Digitalunternehmer*innen die Top 20-Liste der reichsten Menschen des Planeten kapern, hat ein Drittel der Menschheit noch nicht einmal Zugang zum Internet. Davon leben 96 Prozent in Entwicklungsländern. Besonders betroffen sind Frauen und Mädchen. Diese Menschen profitieren nicht von all den Heilsversprechen des Netzes: kein kostenloses Wissen von Wikipedia, keine Online-Sprechstunde mit dem Arzt, keine Katastrophen-Sicherheitswarnung von der App, keine Wettervorhersage, um Saat- und Erntezeiten zu optimieren. Übrigens gehen jeden Abend auch 828 Millionen Menschen hungrig ins Bett. Denken Sie dran, wenn Sie Ihre Handys und Tablets vor dem Schlafengehen auf die Ladestation legen. In Deutschland sind auch rund 21% der Senior*innen offline. Zahlreiche Migrant*innen haben wegen der Sprachbarriere keine Chance auf digitale Teilhabe. Barrierefreiheit generell wird weiterhin sträflich vernachlässigt. Und die 5,5 Mio. Empfänger von maximal 502 Euro Bürgergeld im Monat: Wie viele digitale Endgeräte, Daten-Flat-Rates, Produktivitäts-Apps und Digitale Zeitungsabos können sie sich wohl leisten? Digitalisierung ist der große soziale Spalter, innerhalb unserer Gesellschaft, und zwischen den reichen Ländern und dem Globalen Süden. Sie kennen das als „digitale Kluft“, „digital gap“ oder „digital divide“.
Werteorientierung
Da also was im Globalen Süden passiert oder eben nicht passiert in Echtzeit Rückwirkungen auf unser Land und unsere Bürger*innen hat, ist es Pflicht einer deutschen Regierungsbehörde, selbst als Haus auf dem Stand der Zeit – also in möglichst geringem Abstand zum herrschenden technologischen Status quo – informiert und schnell IT-gestützt zu arbeiten (Digitalisierung im Sinne einer Verwaltungsmodernisierung ist hier eine Führungs- und Organisationspriorität) und gleichzeitig die Wirkungen ihrer digitalpolitischen Handlungen auf Dritte (im BMZ: Partnerländer und das multilaterale System) auch mit den Interessen unserer Bürger*innen abzustimmen. Wenn eine Richtschnur ethischen Handelns einer Regierung Demokratie, Menschenrechte und das Erreichen der Sustainable Development Goals sind, verpflichtet das die Exekutive auch im Bereich der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Entwicklung, sich an eine sich digital transformierende Welt anzupassen. Deshalb setzen sich die Mitarbeitenden des BMZ und seiner Durchführungsorganisationen intensiv und kritisch-reflexiv mit digitalen Technologien und ihren sozialen und weltwirtschaftlichen Folgen auseinander: unter Ablehnung einer Digitalisierung um der Technologieliebe wegen, mit dem erklärten Ziel einer werteorientierten, sprich sozialen, ökologischen und feministischen Steuerung, Gestaltung, Regulierung der Digitalen Transformation. Eine digitalisierte Verwaltung ist eine, die den Kulturwandel zu solchen strukturellen Fragestellungen gemeistert hat, nicht eine, die nach MS DOS und Teams jetzt auch noch Azure und ChatGPT einsetzt. Die Frage nach dem Einsatz algorithmischer Systeme zur Effizienzsteigerung in der eigenen Verwaltung ist dabei vielleicht für Sales-Manager*innen ein lohnendes, aber im Kontext der globalen Entwicklungszusammenarbeit zwischen Zeitenwende, Pandemien und Zinswende ganz ehrlich auch ein marginales Thema.
Nachhaltigkeit
Stichwort ökologisch: Die Schlote des Silicon Valley rauchen und stinken genauso wie einst die in Gelsenkirchen. Die Digitalisierung ist längst für mehr CO2-Emissionen verantwortlich als der Flugverkehr. Und das ist nur der Anfang: Fast drei Milliarden lebende Menschen werden ja erst noch digitalisiert. Eben erreichte die Weltbevölkerung acht Milliarden Menschen, bis Mitte des Jahrhunderts werden es sogar zehn sein. Zahlreiche Volkswirtschaften im Globalen Süden weisen weit höhere Wachstumsraten auf als Deutschland. Wenn alle Unicorns und Startups und IKT-Riesen ihre Wachstumsziele erreichen: Was bedeutet Digitalisierung dann wohl für die Umwelt? Die neuesten Entwicklungen – Streaming, KI, AR, Metaverse – lechzen nach noch mehr Datentransfer, noch mehr Rechenleistung, noch schnellerem Austausch von noch teurerer Hardware. „Digitalisieren“ bedeutet Energieverbräuche zu erzeugen. Umgekehrt gilt paradoxerweise daher auch: Energiekrisen sind Digitalkrisen. Wird der Stecker gezogen, geht nichts mehr. Natürliche Rohstoffe werden mit nicht nachhaltigen Methoden abgebaut. Elektroschrott wird produziert, den man nicht reparieren oder recyclen kann. Die Elektroschrottdeponie von Accra in Ghana gilt als eine der giftigsten Müllhalden der Welt. Daten werden missbraucht, um online unnötigen Konsum anzuheizen. Rechenzentren sind CO2-Schleudern. Der größte Internetknoten der Welt liegt in Frankfurt, wo man stolz ist auf den Spitzenwert von 12,4 Terrabyte Datentransfer pro Sekunde und 70 Rechenzentren in der Region mit einem Flächenverbrauch von bereits jetzt 30 Fußballfeldern, und es boomt, jedes Jahr kommen sieben neue dazu. 3.000 solcher großer Data Center gibt es in Deutschland, dazu kommen nochmal 50.000 kleinere. Städte werden von Betonwüsten zu Serverfarmen. Jede einzelne davon ist eine gigantische Heizung. So wie ihr Handy ab und an heiß wird, so glühen die Millionen von Servern in diesen Racks ununterbrochen. Deshalb müssen sie gekühlt werden. 20 Prozent des kompletten Stromverbrauchs in Hessen verschlingen: Rechenzentren. Der scheinbare digitale „Fortschritt“ ist zugleich Brandbeschleuniger des Klimawandels. Das Digitale ist mitnichten immateriell. Ihre Daten liegen nicht in einem außerweltlichen Internet, die Speicher manifestieren sich in Rechenzentren ganz banal in Beton, Stahl und Kunststoff, und bei jedem einzelnen Suchvorgang werden ihre Daten weltweit über hunderte, vielleicht tausende von Servern geschickt. Deshalb sind Twin Transition (das Zusammendenken von Digitalisierung und Dekarbonisierung) und Just Transition (das politische Konzept für einen Strukturwandel hin zu einer klimaneutralen sozialen und inklusiven Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung) zentrale Schlagwörter in internationalen Prozessen der Digitalpolitik: Ob beim Digital4Development Hub der EU, den das BMZ maßgeblich finanziert, beim Global Digital Compact der UN, oder beim Multistakeholder-Prozess Internet Governance Forum. UNDP, UNESCO, UNIDO, die Weltbank: Alle großen Organisationen haben das im Blick. Festkleben auf Straßen und Rollfeldern ist insofern Demonstrieren in der Symbolik des letzten Jahrhunderts.
Technokraten
Die ältesten Rechenhilfsmittel wie den Abakus verwendeten die Sumerer schon vor 5.000 Jahren. Die ersten automatischen Rechenmaschinen entstanden im 17. Jahrhundert. Leibnitz selbst entwarf die Staffelwalzen-Rechenmaschine und legte die Grundlagen für die binäre Zahlencodierung, die später Konrad Zuse erst zu mechanischen, dann zum ersten Digitalrechner führte. Leibnitz wird das Zitat zugeschrieben, es sei „unwürdig, die Zeit von hervorragenden Leuten mit knechtischen Rechenarbeiten zu verschwenden, weil bei Einsatz einer Maschine auch der Einfältigste die Ergebnisse sicher hinschreiben kann.“ Was uns als eine wahnsinnig moderne Diskussion über Arbeitsethik erscheint, ist auch nur ein alter Hut, wenn wir anerkennen, dass Rechenschieber, Taschenrechner und Quantenrechner letztlich halt doch nur Varianten des Rechners sind. Die Idee der Souveränität eines Staates kam erstmals im 16. Jahrhundert auf: Bei Jean Bodin, der damit dem absolutistischen Herrscher die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt zubilligen wollte. Wer ist heute eigentlich der König des Internets? Wer hat die hoheitliche Gewalt über die Daten? Digitale Souveränität – geht sie vom Volke aus? Die „hervorragenden Leute“ – wer sind sie im Computerzeitalter? Die Fragestellung ist gar nicht so weit hergeholt: Der Begriff Technokratie stammt nicht etwa aus dem alten Griechenland, sondern wurde 1919 von William Smyth erfunden, einem Ingenieur aus Kalifornien. Ein paar Jahre später wurde darauf aufbauend gar die „Technokratische Bewegung“ gegründet. Das Ziel dieser Bewegung war es, Politiker*innen durch eine Elite aus Techniker*innen zu ersetzen. Der Grundgedanke der Technokraten war, (und den teilen sie mit vielen Anhängern heutiger KI): dass die Menschen – und insbesondere ihre gewählten Repräsentanten – dumm, zu langsam und eben zu menschlich sind; und deshalb Entscheidungen besser datenbasiert, durch Informations-Technologien, Computer, Algorithmen getroffen werden sollten. Diese zutiefst undemokratische „Technokratische Bewegung“ wurde 1940 verboten. Unter den Personen, die hierbei verhaftet wurden, war auch: der Großvater von Elon Musk.
GovTech
Ein Jahrhundert später prägen Transhumanisten, Effektive Altruisten und Longtermisten die Feuilletons. Technische Eliten – insbesondere Big-Tech-Unternehmen – horten mehr Ressourcen, mehr Informationen und mehr Einfluss als ganze Staaten. Souveränität auf dem Staatsgebiet, demokratisch auf Zeit legitimiert durch die Wähler*innen: Im global vernetzten Internet gibt es das nicht, dort herrschen Krieg, Wettbewerb und Anarchie, und die Könige kommen und gehen: CompuServe, AltaVista, Netscape, Commodore, ISDN, Disketten sind verschwunden. Clubhouse, Mastodon, war da was? Alpha, WeChat, generative KI, NVIDIA, rechte Trolle und russische Hackergruppen sind 2023 gerade ganz oben. Was einst mit hoffnungsvollen Vokabeln begann, als freies Internet, mit Netzneutralität, als „world wide web“, als „peer to peer“, ist heute hochmonopolisiert, dominiert von kleinen Gruppen von Finanzinvestoren, die systematisch Branche für Branche, Land für Land disrumpieren und den eigenen Datenbeständen einverleiben, bis jede*r und alles als digitaler Zwilling in einem der Metaverse abgespeichert ist und als Datensatz jemandem gehört. Selbst die letzten Bastionen werden gerade gekapert: Mit GovTech, eGovernment sollen Politik und Verwaltung, Wahlen und die Kommunikation zwischen Bürger*innen und Staat, generell alle zentralen Prozesse der Demokratie über die Tablets und Clouds der wenigen Platzhirsche geschleust werden, um diesen unsere vollständige Abhängigkeit von ihnen zu sichern. Huawei, Cisco und Microsoft könnten heute schon mit einem Handgriff Teile von Regierungen und Verwaltungen lahmlegen. Elon Musk hat die Macht privater Entscheider*innen gerade in der Ukraine deutlich gemacht, als er drohte, dort sein Starlink abzuschalten. Im digitalen Raum gibt es kaum mehr freie Nischen, die zu betreten ich nicht ohnehin Eintritt zahle. Selbst die digitale Kommerzialisierung des öffentlichen Raums ist weit fortgeschritten: Satelliten in Umlaufbahnen, Unterseekabel, Sendemasten an Straßen und Schulen, Sendefrequenzen, von personalisierter Reklame in den Apps des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bis hin zu eScootern auf den Gehsteigen. Ethische Debatten zur Digitalisierung betrachten generell zu oft die Anwendungs-Schicht. Unterbelichtet bleibt die Materialität des nur scheinbar flüchtigen Digitalen: Infrastruktur, Hardware, Microchips, Stecker, Sensoren, Antennen, Verteilerkästen, Router, Switche, Racks, Drucker, Tastaturen, Kameras, VR-Headsets, Powerbanks, Dongles, Kopfhörer, Verpackungen, all das Plastik, die Silizium-Waifer, Glasfasernetze, Neodym und Lanthan, die LEDs: Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, und wir sehen die Backbones und die Peripherie nicht mehr vor lauter Bildschirmen. Jedes neue Auto, Flugzeug, Schiff ist heute ein Computer, Lautsprecher, Fernseher, Staubsauger, Kühlschränke, Türsprechanlagen, Prothesen, Fließbänder, CAD-programmierte Industrieroboter sind mit dem Internet verbunden. Manche Schätzungen gehen davon aus, dass bereits 1% der Blauwale heute mit einem Tracker versehene Sender sind, die beständig Daten ins Netz pumpen.
ChatGPT
Hier noch einmal kurz eine Übersicht über Phänomene der Welt, die die privatwirtschaftlichen Treiber*innen der digitalen Transformation geschaffen haben: Plattformökonomie und -monopole, Dotcom-Blase, Cybermobbing, Datenmissbrauch, biased KI, eingebaute Obsoleszenz, Lock-In-Strategien. Brutale Arbeitsbedingungen in der Gig Economy. Zuletzt wurde am Beispiel von ChatGPT, also OpenAI, also Microsoft, enthüllt, unter welchen unmenschlichen Bedingungen Arbeiter*innen in Kenia dafür ausgebeutet werden. Sie kennen die Bilder von Kindern, die in Müllbergen wühlen: So war das, wenn Sie sich heute in scheinbar „automatisierter“ Technologie Reden schreiben lassen: Kenianer*innen haben für Sie vorher den Müll des Internets durchkämmt und alles, was es dort an Gift zu finden gibt, mit bloßen Händen für Sie aussortiert. Das alles für – bei allem Hype – ja oft katastrophal schlechte Ergebnisse. Wissenschaftlichkeit wird durch Reflexion des Vorgedachten, Falsifizierbarkeit von Thesen, genaue Definitionen und Zitate, Fußnoten und Literaturverzeichnisse belegt. Textgeneratoren leisten gerade dies nicht. Produziert wird statt Wahrheitsanspruch immer nur: Geraune. Die staatlichen Akteure wiederum verantworten Cyberwar aus Russland, Social Scoring in China, die NSA in den USA, Internetsperren im Iran und Zensur in Nordkorea. Totalitäre, autoritäre Regime haben viele Deutsche selbst noch erlebt. Rechtspopulistische Parteien sind hierzulande wieder gefährlich am Erstarken. Wenn Faschisten durchregieren können, werden Sie den staatlichen Zugriff auf Ihre Steuerdaten, Gesundheitsdaten, Ihre Kommunikation plötzlich ganz schnell auch bedrohlich empfinden. Der gerade im Zusammenhang mit der Verwaltungsmodernisierung viel geschmähte Föderalismus mit seinen dezentralen und resilienten Systemen ist daher unbedingt zu begrüßen. Digitalisierung kann zu Demokratie und Stärkung der Zivilgesellschaft beitragen, sie kann aber auch brutale Waffe zur Unterdrückung sein. 108 Millionen Menschen waren Ende 2022 auf der Flucht aus Ländern, die ihnen keine freie und sichere Heimat mehr boten. Geflüchtet vor Hunger, Armut, Korruption, Krieg, Verfolgung und Folgen des menschengemachten Klimawandels.
Filterblase
Die positiven Aspekte der digitalen Transformation sind unbestritten. Von der re:publica bis zum Creative Bureaucracy Festival, vom Green Tech Festival bis zum Global Solutions Summit, vom Kongress Digitaler Staat bis zum Zukunftskongresses Staat & Verwaltung bis zum Digital Sustainability Summit des Bitkom, um nur mal in die Berliner Veranstaltungslandschaft zu schauen: Es ist absolut faszinierend zu sehen, wie viele engagierte Menschen moderne Informations- und Kommunikationstechnologien für großartige digitale Lösungen einsetzen. Für Sustainable Finance, für GreenIT, für FairWork, FemTech und ClimateTech. Ich zähle Ihnen heute ja bewusst nur die negativen Seiten der digitalen Transformation auf, um die ethischen Herausforderungen ins Scheinwerferlicht zu stellen. Ich weiß, das viele Widersprüchliche, Paradoxe, Komplexe ist schwer anzuhören. Das liegt aber auch daran, dass Sie in Ihrer maximal polarisierten Berlin-Mitte Filter Bubble jetzt jahrelang darauf trainiert wurden, Adrenalin und Endorphine auszustoßen, wenn Sie mit Likes, Herzchen und Smileys bestärkt werden. Vielleicht sind Sie auch schon app-hängig oder app-ressiv, wie zwei der zahlreichen mit dem Internet aufgekommenen und gar nicht lustigen neuen Krankheiten ironisch heruntergespielt werden. Die superpositiven Erzählungen zum Thema Kultur der Digitalität handeln allzu oft von einer rein fiktiven, imaginierten Zukunft, während die Realität, Vergangenheit bis inklusive Gegenwart des Digitalen Kapitalismus eben oft kritisch zu sehen sind. Das „Bisher, tut uns leid“ der digitalen Revolution führte wie die industrielle Revolution, deren aktuelle Eskalationsstufe sie ja ist, beim Umgang mit Menschenrechten, Natur und Klima zu rücksichtsloser und in Marktpreise nicht eingepreiste Zerstörung, die in einem „Ab jetzt aber, versprochen“ des Einsatzes digitaler Lösungen wieder ausgemerzt werden sollen.
Utilitarismus
Das dahinter liegende Muster ist im schlimmsten Fall der Versuch, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben und wir enden in der Science-Fiction-Hölle der Matrix. Im besten Fall, für die Optimisten unter uns, gelingen aber selbstverständlich Reue, Sühne, Umkehr vom Saulus zum Paulus und der Einzug ins digitale Paradies. Im Ernst: Ethische Fragestellungen werden allzu oft in einer teleologischen Perspektive aufgelöst: „digitale Tools, um zu“. Stillschweigend wird ein rein instrumentelles, utilitaristisches Verständnis angelegt. Digitales wird als „Innovation“ und „Fortschritt“ geframet. Doch es beinhaltet sichtbare zivilisatorische Rückschritte: in unvorstellbarem Maße hochskalierte Cyberkriminalität, Fake News, Kinderpornografie. Vom großen Paradigmenwechsel der digitalen Revolution bleiben bei genauerem Hinsehen aus Sicht der EZ eher kolonialistische Traditionen übrig. „Macht euch die Erde untertan“ wurde immer schon missverstanden als „Macht euch die Schwachen untertan und zerstört dabei ruhig die Natur“. Das handelnde, aktive, moderne Subjekt „westlicher Mensch“ greift sich Instrumente, Werkzeuge, Maschinen, Medien, Computer, Roboter, um auf ein passives, altes, minderwertiges „Objekt“ Natur und „Eingeborene, Ureinwohner, Naturvölker“ einzuwirken. Der Starke frisst den Schwachen. The winner takes it all. Private equity geht vor social equality. So kann man die Welt sehen, muss man aber nicht und sollte es vor allem nicht. Auch auf Barmherzigkeit, Güte, Glück, Liebe, Helfen, Trösten kann man durchaus attraktive Wertesysteme aufbauen. Ich habe diesen Teil des Textes bewusst kurz religiös grundiert. Ethik hat immer eine Schnittstelle in Christentum, Islam, Buddhismus, Voodoo, ethnische Religionen, auch wenn die Datenübertragungsprotokolle oft fehlerhaft sind. Die Utopien hören Sie oft genug. Ich habe deshalb heute vor allem Fakten dabei. Wussten Sie, dass das, was Sie als „Weltsprache“ gelernt haben, Englisch, nur von knapp 5% der Menschen auf der Erde muttersprachlich und von etwas über 10% als Zweitsprache verstanden wird? Rund 476 Millionen Menschen gehören indigenen Bevölkerungen an, samt ihrer Kulturen drohen nahezu 4.000 ihrer Sprachen zu verschwinden. Klar gibt es hier einen tollen Übersetzungsapp-Piloten und dort eine engagierte lokale Oral-History-Datenbank, aber was tut TikTok wohl am Ende für die Uiguren? Die dunkelsten Dystopien unserer Risikogesellschaft erspare ich Ihnen sogar: „Das Risiko einer Vernichtung durch KI zu verringern, sollte eine globale Priorität neben anderen Risiken gesellschaftlichen Ausmaßes sein, wie etwa Pandemien und Atomkrieg.“ Sie alle verfolgen diese offenen Briefe ja. Technologiefolgenabschätzung – von halbautomatischen Schusswaffen über Atomenergie bis Gentechnik und Kl: Kein Anlass für Smileys. Aber so ist das mit der Ethik, also der Frage von Richtig und Falsch, von Wichtig und Unwichtig, ob bei Konsequentialisten oder Deontologen oder strukturellen Rationalisten oder irgendwas dazwischen oder darüber hinaus, auch in der Verwaltung: Wie soll ich begründet handeln – warum, wozu? Die etwas stumpfsinnige Antwort, Deutschland belegt im Digital Economy and Society Index (DESI) 2022 nur Platz 13 und wir müssen egal wie aufholen, Schluss mit der Vorsicht, nur keine Regulierung, alle Mann an Bord bei OZG, IT-Konsolidierung und Sprunginnovationen, greift natürlich zu kurz.
Netzwerk [digital.global]
Was ist also eine positive Rolle des Staates bei der Digitalisierung? Der Staat muss dafür sorgen, dass die digitale Transformation für die Bürger*innen gerecht verläuft, zum Gemeinwohl beiträgt. Dass sie international betrachtet zur Erreichung der SDGs beiträgt, für Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit sorgt und gegen Klimawandel und Kriege hilft. Das BMZ ist auch deshalb ein geschätzter Partner, weil wir genau das mit unserer Digitalpolitik tun und unseren Partnerländern für sie interessante Zugänge zu den digitalen Ökosystemen in Deutschland und Europa eröffnen. Wir wollen damit auch Stimmen aus dem globalen Süden in die deutsche Öffentlichkeit hineintragen. Dazu hat unsere Ministerin gemeinsam mit der GIZ und der KfW das Netzwerk [digital.global] ins Leben gerufen. Dort wird mit NGOs, Unternehmen, multilateralen und bilateralen Partnern, all das verhandelt, worüber wir heute sprechen.
Internationale Digitalstrategie
Die Bundesregierung hat sich letztes Jahr erstmals dazu verpflichtet, eine internationale Digitalstrategie vorzulegen. Unter Federführung des BMDV und unter Beteiligung des AA und anderer Ressorts wird diese gerade unter Einbeziehung aller Stakeholder erarbeitet. Im BMZ haben in den letzten Wochen alle Abteilungen in einer breiten Hausabstimmung den Beitrag unseres Ressorts zur Strategie festgezurrt. Das auch zur Frage: Wer verantwortet die digitale Verantwortung in der Verwaltung? Antwort bei uns: Alle, jeder in seinem Verantwortungsbereich. Die Tage, an denen Digitalisierung an Hubs und Labs ausgelagert wurde, sind längst vorbei. Auch wenn bei uns CDO, CIO, CDS mit einem strategischen „Board Digitale Transformation der Entwicklungszusammenarbeit“ und einem operativen Steuerungskreis das koordinieren: Wer im BMZ nicht verstanden hätte, worüber wir hier sprechen, der könnte schon heute keine fachlich fundierte Vorlage für die Ministerin mehr schreiben, der kann keine Regierungsverhandlungen führen, oder millionenschwere Programmentscheidungen treffen. Das BMZ hat ein Digitalportfolio von mehreren hundert Millionen Euro. In Summe setzt die deutsche EZ rund 600 einschlägige Projekte in 90 Ländern um. Wenn ich deutsche EZ sage, meine ich damit auch GIZ und KfW, IDOS und die Physikalisch-Technische Bundesanstalt PTB, die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe BGR sowie Engagement Global. Unter anderem betreiben wir 20 Digitalzentren vor Ort. Stehen klar für Digital Public Goods, Open Data, Open Source. Das BMZ setzt sich für eine digitale Transformation ein, die unsere Partnerländer in ein weltweit offenes Internet und faire Datenmärkte einbindet und ihnen im geopolitischen Wettrennen zwischen dem staatszentrierten chinesischen Modell und dem marktzentrierten US-amerikanischen Modell eine menschenzentrierte Digitalpolitik mit europäischen Standards als Dritten Weg anbietet. Wir fügen uns ein in die verstärkte Gesetzgebung auf europäischer Ebene: Chips Act, Data Act, DSA, DMA. Und wir beteiligen uns proaktiv an den aktuellen globalen Diskursen.
Künstliche Intelligenz
Ich nehme nur mal das Beispiel KI: Schauen wir für einen Moment mal auf KI nicht durch die anthropomorphisierende Brille. Begriffe wie Künstliche „Intelligenz“, „Experten“- System, Maschinelles „Lernen“ suggerieren ja irreleitend, dass hier Individuen, Personen ein Eigenleben entwickeln, handeln und daher Verantwortung übernehmen und sich also ethisch verhalten müssen. Das tun Softwareprodukte nicht. Egal, wofür KI eingesetzt wird, haben wir es genau damit zu tun, nicht mehr und nicht weniger: Es wird halt was von einem ein- und ausschaltbaren Hilfsgerät berechnet. Nicht im Kopf, nicht mit dem Abakus; mit vielen Daten, vielen Programmzeilen und viel Strom, aber doch auch nur: von einem Gerät berechnet, auf Basis von Nullen und Einsen. Auch wenn marketingoptimierte Suchfelder, Eingabemasken, Chats und Spracheingaben, die smarte Anwendung von Behavior Patterns für eine bessere UX und höhere Conversion Rates ein Du, ein personales Gegenüber suggerieren: Ich deute die Schimäre von der mit Frauennamen ansprechbaren „Intelligenz“ als rhetorisches Ablenkungsmanöver, um die tatsächlich Handelnden zu verschleiern und von Haftungsfragen abzulenken. Ob Sie ein Auto auf den Markt bringen oder ein beliebiges Produkt, das KI nutzt, es sind alle in der gesamten Wertschöpfungskette verantwortlich: Wenn Ihr Auto beim Elchtest aufgrund eines Konstruktionsfehlers umkippt oder eine illegale Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung Ihrer Diesel-Fahrzeuge eingebaut wurde, dann ist daran jemand schuld und geht im Ernstfall auch ins Gefängnis. Wenn Sie aufgrund eines Anwendungsfehlers einen Unfall bauen, haften aber Sie. Nicht das Auto, nicht die Hersteller. So ist das auch auf der Anbieterseite bei Software: Die Programmierer*in, die fehlerhaften Code abliefert. Die Wirtschaftsinformatiker*in, die bewusst auf unvollständigen Daten trainiert, welche zudem Urheberrechte verletzen. Die Backend-Entwickler*in, die gezielt IT-Sicherheitsvorgaben ignoriert und Datenschutzvorgaben aushebelt. Die SEO-Manager*in, die bewusst an niedere Instinkte der Zielgruppen appelliert. CEOs, die Arbeitende in Lieferketten ausbeuten. Händler*innen, die falsche Angaben machen. Sie alle tragen ethische – wenn auch nicht zwingend unternehmerische – Verantwortung für ihr Handeln als Anbieter*in.
KI in der Verwaltung
Wenn ich in einer Verwaltung Software einsetzen will, ob die nun HTML oder Java Script, eine Blockchain, 5G, TensorFlow oder sonst „irgendwas mit KI“ nutzt, ist es auf der Nutzer*innenseite der Anwendung genauso. Die Einkäufer*in übernimmt Verantwortung, die IT, der zustimmende Personalrat, die Anwender*innen, und am Ende sogar die Chef*in, wenn sie politisch den Kopf hinhalten muss. Egal, wofür die KI-basierte Software eingesetzt wurde – Rede schreiben, Fallentscheidung vorbereiten, Dienstwagen navigieren: Die letzte Verantwortung bleibt bei einem Menschen: der Referent*in, der Sachbearbeiter*in, der Fahrer*in, der Staatssekretär*in. Jede*r von ihnen auf der Nutzer*innenseite muss seine Entscheidungen, wie er sich zu Einsatz, Ergebnissen, Folgen der Software verhält, ethisch begründen. In einer Bundesbehörde ist die Verantwortungsübernahme, aufgrund kleiner Anfragen der Opposition, IFG-Anfragen bis hin zu Untersuchungsausschüssen immer transparent, durch hierarchische Mitzeichnungen und umfangreiche Dokumentation lückenlos festgeschrieben. Behörden haben weltweit deshalb schon früh eigene Erfahrungen zum Thema in entsprechende Prozesse einfließen lassen: Das BMZ arbeitet eng mit Smart Africa über das Projekt „FairForward – Künstliche Intelligenz für Alle“ zusammen: Das geht von panafrikanischen Regulierungsempfehlungen, dem „AI for Africa Blueprint“ bis hin zu Selbstlernkursen wie „KI für Politiker*innen“. Von der OECD gibt es die „Empfehlungen zur KI“ und das „AI Policy Observatory“. Deutschland ist Mitglied der „Global Partnership on AI“ und hat mit 193 Mitgliedsstaaten der UNESCO 2021 den Völkerrechtstext „Prinzipien für den ethischen Einsatz von KI“ verabschiedet. Das EU-Parlament hat eben seine Position zum AI Act beschlossen. Die staatlichen Durchführungsorganisationen KfW und GIZ bekennen sich zu den Principles for Digital Development der Digital Impact Alliance (DIAL).
Reparaturbetrieb
Sie sehen: Selbstverpflichtung und Regulierung setzen im Staat den Rahmen für ethisches Handeln. Ja, oft zu spät, der Staat agiert nur als Reparaturbetrieb, während Unternehmen (nicht alle, aber zu viele) zum eigenen Vorteil und Schaden der Menschen und Natur sich mit immer neuen Technologien und Geschäftspraktiken der Verantwortung entziehen. Ein unrühmliches Beispiel dafür war der erbitterte Widerstand gegen das europäische Lieferkettengesetz bis zur letzten Minute. Von Regulierung profitieren zudem meist die ohnehin schon größten Konzerne, weil sie sich leisten können, diese mit Lobbying zu beeinflussen, die Mehrkosten auf dem Markt durchzusetzen oder einfach die Strafen zu tragen. Ihr Marketing-Mantra, mit dem sie eigene Messen, Podien und Social Media Plattformen bespielen: Deutschland wird auf den Rankings nach unten durchgereicht, wir müssen mehr digitalisieren! Leicht übersetzbar in: Kauft von deutschen Steuergeldern mehr von unseren Produkten! Unter Druck geraten dagegen aufstrebende Wettbewerber und der deutsche Mittelstand. Wo werden die Geräte denn gebaut? Wir tun oft, als wäre Asien immer schon Top-Player in der IKT-Branche gewesen. Viele Fabriken wurden aber als Sweatshops gegründet, in denen für westliche Konzerne geschuftet wurde: Outsourcing, Offshoring. Jetzt sind wieder zehn Millionen Menschen mehr Opfer von moderner Sklaverei als noch vor fünf Jahren, ein Viertel davon Kinder. Das passiert auch für Ihr und mein T-Shirt – und Handy. Stichwort: Abbau Seltener Erden. Allein im Jahr 2020 hat sich die Zahl der Milliardär*innen um ein Drittel erhöht. Diese rund 2.700 Menschen besitzen jetzt 3 Billionen Dollar, drei Prozent des globalen BIP. Im gleichen Zeitraum sind weitere 100 Millionen Menschen in absolute Armut gedrängt worden. Das politische Berlin hat für die mehrjährige Förderung von KI 5 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt. Im politischen Benin könnte man angesichts der grassierenden Armut dort damit sehr, sehr, sehr viel an Leid und Hunger lindern. Investitionen gegen Soziales ausspielen, auch das: ein ewiges ethisches Dilemma.
Dada
Gute Argumente dazu finden Sie in den Büchern: Julian Nida Rümelin and Nathalie Weidenfeld, Digitaler Humanismus. Peter Schadt, Digitalisierung. Byung-Chul Han, Infokratie. Tiziana Terranova, After the Internet. Zum Schluss aber nochmal zurück ins Jahr 1919. Sie erinnern sich, William Smyth und die Technokraten in Kalifornien. Ein weiteres elitäres Argument vieler „Techies“ ist ja, dass nur Leute überhaupt über Digitalisierung reden dürfen, die etwas von Quantentechnologie verstehen, Python programmieren können und schon mal einen Pitch bei einem Business Angel gehalten haben. Ich glaube das explizit nicht. Ich glaube, dass Philosophen, Historiker und Psychologen sehr viel klügere Dinge zur Ethik der digitalen Transformation sagen können: Weil die Geschichte der Informationstechnologie im Kern – wie so viele – eine von Rassismus, Sexismus, Klassismus ist. Und nicht die von den großen, männlichen Cäsaren, als die sie gern erzählt wird. Die Rede vom „Virtuellen“ verschleiert regelmäßig auch das Virile, die Stereotypen von männlicher Schöpfungskraft, die laufend in der Digitalszene reproduziert werden. Ich glaube auch, dass Dichter und Maler das für ein geglücktes Leben Wichtige an der Kultur der Digitalität sehr viel schöner, wahrer und besser erfassen und ausdrücken als die Pressesprecher des NASDAQ. Fortschritt als „state of the ART“, nicht „state of the MARKT“. 1919 wurde auch eine andere Bewegung gegründet. Während in den USA die Technokraten ihre Vision entwickelten, die Gesellschaft auf Data statt auf politischen Interessen zu gründen, entstand nach dem Schrecken dieses brutalen Weltkriegs auf europäischem Boden mit Dada eine neue Kunstbewegung, die Logik, Vernunft, Kapitalismus, Nationalismus und Militarismus ablehnte. Der Begriff „Dada“ wurde von Künstlern verwendet, die Kreativität, Kunst, Irrationalität, Humor und die nichtabsichtliche und unverständliche Natur des Menschseins hervorhoben. Hundert Jahre später sind die Verehrer von Dada und Data immer noch um uns herum, oft sogar im selben Raum. Als jemand, der für ein Ministerium arbeitet, das eine soziale, ökologische, feministische Politik vertritt und die digitale Transformation im Sinne der SDGs steuert, bin ich dankbar für Ihre Einladung heute und wünsche uns allen einen inspirierenden weiteren Verlauf.