„Die digitale Transformation sollten wir nicht über uns ergehen lassen“

Die Bundesregierung arbeitet an einer Strategie für internationale Digitalpolitik – bis Ende des Jahres soll sie stehen. Wie wird sich Deutschland international positionieren, u.a. zu Internet Governance? Ein Doppelinterview mit Dr. Regine Grienberger vom Auswärtigen Amt und Dr. Irina Soeffky vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr über ihre Arbeit daran.

In wenigen Wochen findet das Internet Governance Forum (IGF) in Kyoto statt – die zentrale Plattform für Themen der Internet Governance. Sowohl das Auswärtige Amt (AA) als auch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) sind hier vertreten. Dieses Jahr steht das IGF unter dem Motto “The Internet We Want – Empowering All People”. Für welches Internet plädieren Sie?

Irina Soeffky: Für ein freies, globales, und dezentrales Internet, offen und technisch interoperabel. Lange erschien uns das als Selbstverständlichkeit. Nun aber sehen wir besorgniserregende Entwicklungen, wie den Versuch einiger Staaten, ihr nationales Netz abzuschotten. Damit dürfen wir uns nicht abfinden, sondern müssen international für unsere Werte einstehen. Und deshalb sind Formate wie das IGF so wichtig, bei denen 174 Staaten zusammenkommen und mit Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft darüber beraten, welches Internet wir wollen. Zu einem offenen, freien Internet müssen alle beitragen. Diesen Multi-Stakeholder-Ansatz wollen wir international stärken.

Regine Grienberger: Hinzufügen möchte ich, dass es auch ein sicheres Internet sein soll. Wenn man ein sicheres Internet fordert, gibt es dafür viele Gründe: zum Beispiel Cybercrime oder Desinformation und Hassreden im Netz. Diese Argumente werden aber auch von autoritären Staaten herangezogen, um die Kontrolle des Internets stärker zu den Staaten zu verschieben, weg von der Zivilgesellschaft und den technischen Communities. Wir machen uns keine Illusionen: Ein zu einhundert Prozent sicheres Internet ist eine Wunschvorstellung. Nur darf uns das eben nicht dazu verleiten, das Internet stärker zu kontrollieren oder sogar zu zensieren.

 

Frau Dr. Soeffky, Sie erwähnten gerade das, was man als Splinternet bezeichnet, also die Aufteilung des Internets nach technologischen, nationalen und kommerziellen Interessen. Können Sie sich eine Situation vorstellen, in der auch demokratisch verfasste Länder sagen: Jetzt sollten wir uns doch ein Stück weit aus etwas herausziehen?

Soeffky: Nein, wir dürfen das offene Internet nicht aufgeben. Natürlich müssen wir auf neue Bedrohungslagen reagieren, Sicherheit gewährleisten und Cyberangriffe abwehren. Wir müssen uns vor Desinformation, Hass und Hetze schützen. Aber die Konsequenz aus diesen Bedrohungen darf niemals sein, dass wir die freie Kommunikation einschränken. Es gibt kluge Mechanismen, um damit umzugehen, wie z.B. den Digital Services Act der EU, den unser Haus gerade in nationales Recht umsetzt. Bei der Bundesnetzagentur schaffen wir eine starke Plattformaufsicht und eine zentrale Ansprechstelle für Bürgerinnen und Bürger, wenn sie ihre Rechte im Netz verletzt sehen.

Grienberger: Ja, die nötigen Mechanismen sollten wir im Multi-Stakeholder-Ansatz verorten. Das bedeutet, dass wir uns bemühen, unterschiedliche Interessensgruppen zusammenzubringen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu entwickeln. Und damit ist schon im Gegensatz zu autoritären Staaten eine grundsätzlich andere Methode gewählt. Bei Desinformation und Hassreden müssen wir einfach die Plattformen stärker in die Verantwortung nehmen. Und Cybercrime schränkt die Nutzbarkeit des Internets für einige Bevölkerungsgruppen stark ein. Das erfordert mehr internationale Zusammenarbeit bei der Strafverfolgung. Insgesamt ist dies ein Thema, das bei den Vereinten Nationen – und die sind ist ja praktisch die oberste globale Governance-Ebene – sehr gut angesiedelt ist.

 

Wie können wir diese Vision umsetzen? Und wie schaffen wir es, dass alle Menschen weltweit hiervon profitieren?

Grienberger: Als Deutschland oder auch als Europäer stehen wir nicht allein, sondern es gibt eine sehr große Gruppe von so genannten „like minded“ Staaten, von Gleichgesinnten, die in dieser Fragestellung mit einer ähnlichen Sichtweise vorgehen. Und zusammen mit ihnen versuchen wir auch diejenigen zu überzeugen, die ihren Weg in die digitale Transformation und auch in die globale Vernetzung über das Internet gerade erst antreten. Wenn es dann darum geht, den autoritären Staaten entgegenzutreten, müssen wir die Vorteile, die ein offenes Internet für alle hat, möglichst deutlich vertreten und an ihnen auch festhalten.

 

Und was heißt das konkret für die Förderung von Frauen und Mädchen sowie andere marginalisierte Gruppen, wie eben bei der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik postuliert?

Grienberger: Dieses Thema liegt mir persönlich sehr am Herzen. Meine Maßgabe ist, dass wir als Auswärtiges Amt nicht für diese Gruppen agieren, sondern mit ihnen zusammen. Wir setzen uns dafür ein, ihnen in den verschiedenen Gesprächs- und Verhandlungsformaten die entsprechende Beteiligung zu ermöglichen. Manchmal bedeutet es auch, dass man ganz praktische Hürden überwinden muss – wie zum Beispiel Reisekosten übernehmen. Es bedeutet aber auch, dass sich Staaten und Regierungen bemühen sollten, qualitativ gute und für Nutzerinnen wertvolle Inhalte online zu stellen, damit Frauen und Mädchen sowie marginalisierte Gruppen im Internet auch Inhalte vorfinden, die sie interessieren und die ihnen weiterhelfen. Das gilt zum Beispiel auch für Menschen, die kleineren Sprachgemeinschaften angehören. Das dritte Element ist die Bekämpfung von geschlechterspezifischer Gewalt online. Denn die führt tatsächlich dazu, dass insbesondere Frauen und Mädchen bestimmte Internetangebote nicht nutzen.

 

Frau Dr. Soeffky, wie schauen Sie aus der Perspektive Ihres Ministeriums auf die Bemühungen, die feministische Außen- und Entwicklungspolitik auch auf digitalen Ebenen zu forcieren?

Soeffky: Regine Grienberger hat mit dem Multi-Stakeholder-Ansatz schon ein ganz zentrales Element genannt. Letztlich geht es um ein Empowerment der Stakeholder in der Welt insgesamt und um einen möglichst günstigen, freien Zugang zum Netz für alle. Denn davon profitieren Insbesondere Minderheiten, Frauen, Mädchen und andere marginalisierte Gruppen. Sie vernetzen sich online, finden dort einen sicheren Raum für den Austausch, auch über Grenzen hinweg. Deshalb unterstützen wir Initiativen wie „Partner to Connect“ der Internationalen Fernmeldeunion, um die Konnektivität international zu verbessern. Ein weiteres Beispiel: Wir arbeiten momentan im Rahmen des G20-Digitalministerprozesses unter indischer Präsidentschaft sehr stark am Digital Skilling – also an der Entwicklung von Fähigkeiten, die Teilhabe ermöglichen.

 

Neben dem IGF gibt es noch weitere Institutionen wie ICANN und WSIS, die sich Internet Governance widmen. Wie würden Sie beide die verschiedenen Foren und Organisationen eigentlich gewichten?

Soeffky: Durch den WSIS-Prozess wurde erstmals versucht, eine Art globale Aufgabenverteilung zu skizzieren. Von daher sind dies alles sehr wichtige Organisationen und Formate, alle mit ihren spezifischen Rollen und Aufgaben. ICANN beispielsweise spielt eine unverzichtbare Rolle dabei, sicherzustellen, dass unser Internet täglich auf technischer Ebene funktioniert. Idealerweise ergänzen sich diese verschiedenen Arbeitsprozesse, ohne dass sie Doppelarbeiten leisten oder in Widerspruch geraten.

Grienberger: Aus meiner Sicht ist das Internet Governance Forum ein sehr zentrales Forum für den Austausch. Die restlichen Prozesse sortieren sich nach meiner Beobachtung ein bisschen darum herum. Es gibt ja den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft; in diesem Prozess steht demnächst die Entscheidung an, wie es mit dem Internet Governance Forum weitergehen wird. ICANN auf der anderen Seite ist wiederum ein sehr technisches Forum, was einen enormen Wert hat weil dort die Zusammenarbeit der Multi-Stakeholder gut funktioniert – da geht es quasi um das Finden von Verkehrsregeln für das Internet.

Soeffky: Viele dieser Gremien haben letztlich ihre gemeinsamen Wurzeln im Multi-Stakeholder-Prinzip. Der WSIS-Prozess ab 2003 und das IGF ab 2006 waren dann die ersten umfassenden Versuche der Vereinten Nationen, sich in dem bestehenden Gefüge als Koordinator zu positionieren. Diesem Gedanken folgt auch der Global Digital Compact, der uns künftig allgemeinere Leitlinien geben wird.

 

Frau Dr. Grienberger, Sie arbeiten konkret mit dem UN Tech Envoy zum Global Digital Compact zusammen. Wie gestaltet es sich, dass wir weg vom Abstrakten kommen?

Grienberger: Der Tech Envoy kam mit der Aufgabe ins Amt, diesen Global Digital Compact vorzubereiten. Er hatte dafür sehr wenig Ressourcen und sehr wenig Zeit. Und das war der Moment, an dem wir im Auswärtigen Amt gesagt haben: Hier sollten wir ihn aktiv unterstützen. Wir haben dann einen Konsultationsprozess für ihn organisiert, also seine Konsultationen mit Stakeholdern in drei Weltregionen, nämlich in Afrika, in Asien und in Latein- sowie Mittelamerika. Daraus sind schriftliche Zusammenfassungen von Stakeholderpositionen entstanden. Eine der Erkenntnisse:

Die Vielzahl der Foren und Formate ist für die Stakeholder, aber auch für die Regierungen, insbesondere bei den Partnern im so genannten globalen Süden, wirklich eine Herausforderung. Daher müssen wir Deutsche und Europäer*innen in diesen multilateralen Formaten kohärente und konsistente Positionen vertreten und den Mehrwert dieses Engagements herausstellen.

Dr. Regine Grienberger, Botschafterin für Cyberaußen- und Cybersicherheitspolitik im Auswärtigen Amt

Eine andere Lehre ist, dass für viele Länder, insbesondere aus Afrika, die Vereinten Nationen tatsächlich der Ort sind, dem sie die meiste Legitimität zuschreiben, wenn es darum geht, eine faire Lösung zur Berücksichtigung aller Interessen der Industrieländer und der Entwicklungsländer zu finden.

 

Was werden die Themen des Global Digital Compact sein?

Grienberger: Der Text wird erst erarbeitet. Er wird verschiedene Punkte aufgreifen, die in den Konsultationen sehr wichtig waren: zum Beispiel den physischen Zugang zum Internet. Ein anderer Punkt ist aber eben auch Access, eben Dinge, die man online tun kann und welche einem weiterhelfen: Bildungsangebote, Arbeitsmöglichkeiten, wirtschaftliche Angebote und amtliche Informationen. Ferner wird künstliche Intelligenz eine große Rolle spielen.

 

Und wie will man die Beteiligten in die Pflicht nehmen?

Grienberger: Das ist eine Frage, mit der wir uns auseinandersetzen. Denn der Compact wird in gewisser Hinsicht nur die Regierungen verpflichten. Er wird ja hoffentlich ein Konsensdokument sein und deswegen auch die Motivation von Regierungen nutzen können. Er wird aber keine Instrumente enthalten, um zum Beispiel den Privatsektor in die Pflicht zu nehmen. Das heißt, er muss aus sich selbst heraus überzeugen.

 

Frau Dr. Soeffky, der Konsultationsprozess für eine Strategie für internationale Digitalpolitik läuft seit diesem Jahr. Warum braucht Deutschland sowas, auch gerade mit Blick auf die Außenpolitik und die Entwicklungszusammenarbeit?

Soeffky: In der Tat haben wir einen sehr umfangreichen Stakeholder-Prozess begonnen, national wie auch international, mit vielen Gesprächen mit ganz unterschiedlichen Akteuren. Es herrscht hier großer Konsens, dass es eine solche Strategie braucht: Das Internet funktioniert global, es bietet unendliche Chancen. Aber wir müssen gemeinsam darauf schauen, dass auch wirklich alle davon profitieren. Und damit meine ich innerhalb unserer Gesellschaft, aber auch weltweit. Die internationale Digitalstrategie soll ein Kompass für die gesamte Bundesregierung werden, um international bei Digitalfragen kohärenter und wirksamer zu agieren. Wir wollen Deutschland in der internationalen Digitalpolitik zu einer starken Stimme für das freie Internet machen. Dafür müssen wir innerhalb der Regierung noch stärker an einem Strang ziehen, abgestimmt vorgehen und klare Prioritäten setzen.

 

Was wäre denn Ihre allerwichtigste Priorität?

Soeffky: Wir wollen das freie Internet bewahren, so, wie wir es kennen und wie wir es gerade mit vielen Adjektiven beschrieben haben. Das wird nur gelingen, wenn wir den Multi-Stakeholder-Ansatz verteidigen und weiterentwickeln.

Wir wollen mit der Strategie langfristig Orientierung geben – auch über den nächsten Technologiehype hinaus.

Dr. Irina Soeffky, Leiterin der Unterabteilung für nationale, europäische und internationale Digitalpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr

Grienberger: Aus meiner Sicht ist die internationale digitale politische Strategie ein Mittel, um alle Ressorts, die daran beteiligt sind, aus ihrer Komfortzone herauszulocken. Für das Digitalministerium ist sicherlich der nationale Bereich, wo sie als Gesetzgeber tätig werden könnten, komfortabler als der internationale. Und für uns und das Entwicklungsministerium ist es genau umgekehrt. Also würde ich sagen: Wir treffen uns außerhalb unserer jeweiligen Komfortzonen und versuchen eben aus Digitalpolitik, internationalen Aufgaben in der Digitalpolitik, dann digitaler Entwicklungspolitik und digitaler Außenpolitik oder Digital Diplomacy praktisch eine gemeinsame internationale Digitalstrategie der Bundesregierung zu machen. Mein Ziel dabei ist, dass wir auf Grundlage dieser Strategie einen eigenen, kohärenten und auch wirksamen Außenauftritt Deutschlands haben.

 

Es gibt ein Schlagwort, das Sie beide immer wieder genannt haben und welches sich wie ein roter Faden durch unser Gespräch schlängelt: „Multi Stakeholder“. Wie stellen Sie in Ihren beiden Ministerien sicher, dass diese Akteure aus Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Wissenschaft es tatsächlich schaffen, ihre Perspektive in die Strategie einzubringen?

Soeffky: Wie schon erläutert, haben wir einen sehr umfangreichen und offenen Konsultationsprozess begonnen. Wir haben versucht, möglichst viele zu erreichen und möglichst vielen die Teilnahme zu ermöglichen.

 

Und diese breite Einbindung der verschiedenen Perspektiven wird nicht irgendwann abbrechen?

Soeffky: Im Gegenteil. Ende des Jahres soll die Strategie für die Internationale Digitalpolitik vom Kabinett beschlossen werden. Bis dahin und auch darüber hinaus wollen wir den Austausch mit Stakeholdern und Ländern kontinuierlich fortsetzen.

Grienberger: Wir werden diese Konsultation weiter fortsetzen und uns die Anmerkungen sehr genau anschauen und in die weitere Arbeit einfließen lassen. Zur Wahrheit gehört natürlich auch, dass wir viele, auch divergierende Stellungnahmen bekommen werden und dass am Ende natürlich das Kabinett beschließt. Von daher wird das kein endloser, offener Diskursprozess sein, sondern es wird natürlich irgendwann zu einer Entscheidung des Bundeskabinetts kommen. Dann werden wir bestimmte Kompromisse schließen müssen. Sicherlich werden sich nicht alle Positionen in der von manchen Akteuren intendierten Form wiederfinden können. Aber die Mitwirkung werden wir sicherstellen.

 

Frau Dr. Grienberger, Sie setzen sich für eine bessere Außenpolitik durch digitale Unterstützung ein. Was heißt das konkret?

Grienberger: Die digitale Außenpolitik hat zwei Dimensionen. Das eine ist die innere: Wie arbeiten wir als Diplomat*innen mit Digitalisierung und mit digitalen Mitteln? Und das zweite ist die Außendimension, also Digitalisierung als Thema in den Dialogen und Aktivitäten, die wir eben in bilateralen oder multilateralen Formaten haben. Warum führt Digitalisierung zu besserer Außenpolitik? Da ist zum einen das Thema Wissensmanagement: Wir haben 225 Auslandsvertretungen und eine relativ große Zentrale, die wir miteinander vernetzen müssen. Unsere digitalen Tools könnten wir noch viel besser synchronisieren. Ein weiteres Beispiel: Wir haben natürlich auch einfach eine Knappheit an menschlichen Ressourcen. Und etwas, was Abhilfe schaffen kann, ist, dass man eben Prozesse automatisiert und digitalisiert und von der Papierform wegkommt. Und drittens:

In einer außenpolitischen Situation, die immer komplexer wird und wo neue Elemente Berücksichtigung einfordern, wie jetzt zum Beispiel der Klimawandel, ist es erforderlich, dass wir unsere Fähigkeiten, faktenbasiert zu entscheiden, stärken. Dass wir also in der Lage sind, eine große Menge an Daten einschließlich der von uns selbst produzierten Daten zu analysieren.

Dr. Regine Grienberger, Botschafterin für Cyberaußen- und Cybersicherheitspolitik im Auswärtigen Amt

Wie sieht das konkret aus?

Grienberger: Wir haben zum Beispiel eine Abteilung, die sich mit humanitärer Hilfe beschäftigt. Und humanitäre Hilfe ist natürlich per Definition ein Instrument, das häufig erst spät kommt, nämlich dann, wenn ein Schaden bereits entstanden ist. Deswegen gibt es bei uns ein Projekt, es nennt sich vorausschauende humanitäre Hilfe. Da geht es darum, zum Beispiel bei Naturkatastrophen früher zu handeln, also schon mit Hilfeleistung zu beginnen, bevor ein Hurricane anlandet. Denn wir wissen, dass vorausschauende humanitäre Hilfe bis zu sieben Mal effektiver ist, als wenn die gleichen Gelder erst nach dem Eintritt der Katastrophe eingesetzt würden. Aber das bedeutet natürlich, dass man die Programmierung anders aufbauen muss. Dafür benutzen wir jetzt ein Forecasting, das auf der Auswertung von Big Data mithilfe eines KI-Instruments basiert.

 

Können Sie etwas zur Zielgenauigkeit der künstlichen Intelligenz bei Ihrer präventiven humanitären Hilfe sagen?

Grienberger: Das Projekt steht am Anfang. Es hat durchaus auch Vorbehalte gegeben. Aber es überzeugt damit, dass es komfortabel zu benutzen ist und weil es Handlungsoptionen eröffnet – und zwar jene, auf die wir selbst nicht gekommen wären. Der Algorithmus ist natürlich sehr viel weniger von persönlichen Erfahrungen und Vorlieben beeinflusst, die sonst bei politischen Entscheidungen, die oft eben auch Bauchentscheidungen sind, eine große Rolle spielen können. Bei Entscheidungen macht man oft Denkfehler, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Und das ist natürlich einem Algorithmus schnuppe, der wirft dieses Szenario trotzdem aus.

 

Welche Rolle spielt die Entwicklungszusammenarbeit gerade eben mit Blick auf Digitalisierung als ein globales Unterfangen?

Grienberger: Ich mache oft die Erfahrung, dass es Partnern hilft, neben politischen Botschaften gleichzeitig ganz konkrete Hilfe für konkrete Probleme angeboten zu bekommen. Wir sollten unsere Partner überzeugen können; wir stehen im Wettbewerb mit anderen Systemen und müssen deswegen uns auch bemühen, nicht nur bei den Worten zu bleiben, sondern auch Taten folgen zu lassen. Und auf der anderen Seite ist es wichtig, dass wir Entwicklungszusammenarbeit auch nach innen reflektieren: Das Beispiel Verwaltungsdigitalisierung ist umso überzeugender, wenn wir dieses Rezept auch bei uns selbst anwenden.

Soeffky: Ein Denken in Silos ist nirgends hilfreich – und schon gar nicht in der Bundesverwaltung. Ein Beispiel: Ich komme ursprünglich aus dem Bundeswirtschaftsministerium, da macht man auch Außenwirtschaftspolitik. Aber auch das BMZ hat natürlich schon lange erkannt, dass Unternehmen für die Zusammenarbeit mit Partnern des globalen Südens wichtig sind. Im Idealfall greifen die verschiedenen Politikinstrumente nahtlos ineinander.

 

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft richten – wie muss die digitale Welt in zehn Jahren aussehen, so dass Sie sagen können: „Die Strategie war erfolgreich – und zwar für Deutschland, für die Außenpolitik und für die Entwicklungszusammenarbeit“?

Grienberger: Für mich ist es ein taktisches und strategisches Ziel, dass es auch in zehn Jahren noch ein Internet Governance Forum gibt, welches noch mehr als bisher Akzeptanz bei allen Stakeholdern findet; insbesondere auch bei den Staaten, die vielleicht jetzt erst damit loslegen. Ein zweites Element wäre, dass wir die Zahl der Menschen, die nicht ans Internet angeschlossen sind, weiter verkleinern und dabei gleichzeitig auf dem Weg sind, auch Klimafreundlichkeit bei der Erweiterung des Internets zu berücksichtigen. Das dritte ist: Ich wünsche mir, dass sich das Schlagwort vom „Völkerrecht des Netzes“, also die Spielregeln für das Internet, weiter verfestigt und dass wir einige der größten Probleme, insbesondere im Bereich von Cybercrime, bis dahin eingedämmt haben werden.

Soeffky: Ich kann Regine Grienberger nur zustimmen, insbesondere zum Internet Governance Forum. Damit einher geht natürlich, den Multi-Stakeholder-Ansatz zu bewahren und zu stärken. Ich wünsche mir, dass Deutschland als aktiver und wichtiger Akteur in der Digitalpolitik auftritt und dazu beiträgt, dass wir gemeinschaftlich einen guten Umgang mit neuen Technologien finden – dass wir die Chancen betonen, ohne die Risiken auszublenden.

Die digitale Transformation sollten wir nicht über uns ergehen lassen und stillschweigend akzeptieren, was in anderen Weltregionen passiert. Wir sollten den Anspruch haben, die Digitalisierung weltweit mitzugestalten und für Werte wie Freiheit, Demokratie und Fairness auch im Netz ringen.

Dr. Irina Soeffky, Leiterin der Unterabteilung für nationale, europäische und internationale Digitalpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr

Dr. Regine Grienberger ist Botschafterin für Cyberaußen- und Cybersicherheitspolitik im Auswärtigen Amt. Ihr beruflicher Werdegang konzentrierte sich auf die EU-Außen- sowie die EU-Finanz- und Wirtschaftspolitik mit Schwerpunkt auf die allgemeine Agrarpolitik. Frau Grienberger war stellvertretende Leiterin des Ministerbüros (Gabriel, Maas), stellvertretende Referatsleiterin im Referat E04 (EU Wirtschafts- und Finanzangelegenheiten) und Referentin für allgemeine Landwirtschafts-Politik, verantwortlich unter anderem für das Krisenmanagement bei Pandemien. Auch die EU-Öffentlichkeitsarbeit und die auswärtigen Beziehungen der EU mit Staaten des Westbalkans gehörten zu ihren Aufgaben. An der Deutschen Botschaft Rom war sie die Leiterin der politischen Abteilung, an der Deutschen Botschaft Laibach war Sie Kultur-, Presse und Protokoll Attaché. Frau Grienberger studierte in Bonn, München, Wien und an der Michigan State University Agrarwissenschaft. Sie promovierte in Bonn.

 

 

Dr. Irina Soeffky ist Leiterin der Unterabteilung für nationale, europäische und internationale Digitalpolitik im Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Sie verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung im öffentlichen Dienst und hat sich eingehend mit internationalen Themen befasst. Sie hat einen Abschluss in Rechts- und Wirtschaftswissenschaften.